- eine Initiative der Anwaltssocietät Prof. Dr. Tuengerthal, Andorfer, Greulich u. Prochaska -
Zeitarbeiter haben Anspruch auf Zuschläge beim Urlaubsentgelt
EuGH Urteil vom 13.01.22 – C‐514/20
Sachverhalt: Sind die Tage des bezahlten Urlaubs bei der Berechnung der Mehrarbeit eines Zeitarbeiters zu berücksichtigen?
Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Mehrarbeitszuschlag für die Überstunden eines Zeitarbeiters. Nach dem Manteltarifvertrag für Zeitarbeit (MTV) werden Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 25 % für Zeiten gezahlt, die in Monaten mit 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden hinausgehen.
Im Ausgangsverfahren arbeitete der Zeitarbeiter an den ersten 13 Arbeitstagen des Monats 121,75 Stunden und nahm für die verbleibenden zehn Tage bezahlten Jahresurlaub, der 84,7 Arbeitsstunden entsprach.
Da der Zeitarbeiter der Ansicht war, dass die für den bezahlten Jahresurlaub abgerechneten Tage bei der Bestimmung der geleisteten Arbeitsstunden zu berücksichtigen seien, erhob er bei den deutschen Gerichten Klage. Er verlangte von seinem Arbeitgeber die Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 25 % für 22,45 Stunden.
Nachdem seine Klage im ersten Rechtszug und in der Berufungsinstanz abgewiesen worden war, legte der Zeitarbeiter beim BAG Revision ein.
Das BAG wies zwar darauf hin, dass gemäß dem Wortlaut des MTV bei der Feststellung, ob die Schwelle der normalen monatlichen Arbeitszeit vom Zeitarbeiter überschritten worden sei, nur die geleisteten Stunden angerechnet werden könnten. Unter „geleisteten Stunden“ seien tatsächlich erbrachte Arbeitsstunden zu verstehen, wovon Urlaubszeiten nicht erfasst seien.
Allerdings führte der BAG aus, dass die Bestimmungen des MTV einen Anreiz für Zeitarbeiter begründen könnten, den bezahlten Mindestjahresurlaub nicht in Anspruch zu nehmen. Aus diesem Grund hat das BAG Zweifel, ob dies mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar ist, nach der die Arbeitnehmer nicht davon abgehalten werden dürfen, ihren Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub geltend zu machen.
Außerdem wies das BAG darauf hin, dass in Tarifverträgen nicht von § 1 des Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) abgewichen werden dürfe, der vorsehe, dass jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub habe, und der nach Maßgabe von Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 unionsrechtskonform auszulegen sei.
Als Folge setzte das BAG das Verfahren aus und legte die Sache dem EuGH vor.
Entscheidung des EuGH: Mehrarbeit von Zeitarbeitern muss beim Urlaubsentgelt berücksichtigt werden
Mit seiner Vorlagefrage wollte das BAG wissen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehen, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Zeitarbeiter in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden.
Hierzu entschied der EuGH, dass mit dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch auf Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird. Einerseits soll es dem Zeitarbeiter ermöglicht werden, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen. Andererseits soll er über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit verfügen.
Der Zeitarbeiter muss normalerweise über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen können, damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit sichergestellt ist.
Folglich ist die Schaffung eines Anreizes, auf den Erholungsurlaub zu verzichten oder die Zeitarbeiter dazu anzuhalten, darauf zu verzichten, mit den Zielen unvereinbar, die mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verfolgt werden. Solche Ziele bestehen u. a. darin, zu gewährleisten, dass der Zeitarbeiter zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt. Demnach verstößt auch jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die denZeitarbeiter davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf bezahlten Jahresurlaub verfolgte Ziel.
Schließlich kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass ein Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden, bei dem die Inanspruchnahme von Urlaub für den Zeitarbeiter ein geringeres Entgelt nach sich ziehen kann, da dieses um den für tatsächlich geleistete Überstunden vorgesehenen Zuschlag beschnitten wird, dazu geeignet, den Zeitarbeiter davon abzuhalten, in dem Monat, in dem er Überstunden erbracht hat, von seinem Recht auf bezahlten Jahresurlaub Gebrauch zu machen.
Folglich ist ein Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden aus dem MTV nicht mit dem in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG vorgesehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar.
Fazit: Inanspruchnahme von Urlaub darf für einen Zeitarbeiter kein geringeres Entgelt zur Folge haben
Aus dem Urteil wird deutlich, dass aus der Inanspruchnahme von Urlaub für den jeweiligen Zeitarbeiter keine negativen finanziellen Konsequenzen resultieren dürfen. Der MTV sieht bei der Berechnung des Mehrarbeitszuschlags die Zeit des bezahlten Urlaubs nicht als geleistete Arbeitsstunden an. Dadurch werden die geleisteten Überstunden neutralisiert. Dies hat zur Folge, dass der Zeitarbeiter mit dem bezahlten Urlaub ein geringeres Entgelt erhält, als wenn er die Arbeitsstunden tatsächlich geleistet hätte. Dies ist mit dem EU-Recht nicht vereinbar.
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