Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen E101 für Zivilgerichte
EuGH Urteil C-370/17 und C-37/18
Sachverhalt: Unter welchen Umständen haben Entsendebescheinigungen E101 für nationale Gerichte Bindungswirkung?
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Fluggesellschaft (Vueling) mit Sitz in Barcelona (Spanien). Diese wurde wegen der Errichtung eines Geschäftsbetriebs für den Luftverkehr und die Selbstabfertigung der Bodendienste in das Handels- und Gesellschaftsregister von Bobigny (Frankreich) eingetragen. Das Bodenpersonal wurde bei den französischen Sozialversicherungsträgern angemeldet. Das fliegende Personal mit den von der spanischen allgemeinen Sozialversicherungsanstalt ausgestellten Entsendebescheinigungen E101 nach Frankreich entsandt.
Die französische Gewerbeaufsicht war der Ansicht, es liege ein Missbrauch der Entsendung vor. Daher erstellte sie ein Protokoll wegen Schwarzarbeit gegenüber der Vueling.
Auf der Basis dieses Protokolls wurden gegen die Vueling sowohl eine zivilrechtliche Klage, als auch eine strafrechtliche Anklage erhoben. Die Zivilklage war bis zum Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung in dem genannten Strafverfahren ausgesetzt.
Strafrechtliche Anklage: Betrügerisch erlangte Entsendebescheinigungen E101 haben keine Bindungswirkung
Während das Strafgericht die Vueling freisprach, verurteilte das Berufungsgericht die Vueling wegen Schwarzarbeit zu einer Geldstrafe in Höhe von 100 000 Euro. Dagegen legte die Vueling eine Kassationsbeschwerde ein. Diese wurde von der Kammer für Strafsachen des Kassationshofes jedoch zurückgewiesen.
Sie führte aus, die Tätigkeit von Vueling am Flughafen in Frankreich sei gewöhnlich, dauerhaft und fortgesetzt in Geschäftsräumen oder mittels Einrichtungen im Inland ausgeübt worden. Somit habe Vueling im Inland über eine Zweigstelle oder zumindest einen Betriebsstützpunkt verfügt. Vueling könne sich daher nicht auf die Entsendebescheinigungen E101 berufen, um die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entsendungen nachzuweisen. Den nationalen Gerichten sei es daher erlaubt, einen vorsätzlichen Verstoß gegen französische Rechtsvorschriften festzustellen.
Keine Einbeziehung des spanischen Trägers zur Überprüfung der Entsendebescheinigungen E101 im Strafverfahren
Im Zeitraum zwischen der Berufung und der Kassation unterrichtete der französische Verband für die Erhebung der Beiträge der sozialen Sicherheit und der Familienbeihilfen den spanischen Träger, der die fraglichen Entsendebescheinigungen E101 ausgestellt hatte, über die Vorgänge. Er ersuchte ihn, die Entsendebescheinigungen E101 für ungültig zu erklären. Noch bevor eine Entscheidung des spanischen Trägers erging, verurteilte der Kassationshof die Vueling.
Anschließend erklärte der spanische Träger die Entsendebescheinigungen E101 für ungültig. Dagegen legte Vueling eine Beschwerde ein, die von der zuständigen Beschwerdeinstanz zwar zurückgewiesen wurde. Mit Änderungsentscheidung setzte sie jedoch die Ungültigerklärung der Entsendebescheinigungen E101 außer Kraft. Dabei stützte sie sich darauf, dass es wegen der mittlerweile verstrichenen Zeit und aufgrund der Tatsache, dass die zuvor entrichteten Beiträge wegen Verjährung nicht erstattet werden könnten, nicht zweckmäßig sei, die Zugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer zur spanischen Sozialversicherung für rechtsgrundlos zu erklären. Die Entsendebescheinigungen E101 hatten somit für die Vergangenheit Bestand.
Fortsetzung des Zivilverfahrens: Ist das Zivilgericht an die Entscheidung des Strafgerichts gebunden oder muss es die E101-Entsendebescheinigungen beachten?
In diesem Kontext warf das französische Regionalgericht die Frage auf, ob den Entsendebescheinigungen E101 auch dann Bindungswirkung beizumessen sei, wenn die Strafgerichte des Mitgliedstaats, der die betreffenden Arbeitnehmer aufgenommen habe, den Arbeitgeber wegen Schwarzarbeit verurteilt hätten. Das französische Regionalgericht entschied das Verfahren auszusetzen und legte dem EuGH die Frage vor.
Parallel dazu gab es ein weiteres Verfahren seitens eines Co-Piloten gegen Vueling.
Während das Arbeitsgericht alle gestellten Anträge zurückwies, verurteilte das Berufungsgericht Vueling dem Co-Pilot u. a. eine pauschale Entschädigung wegen Schwarzarbeit zu zahlen. Weiter verurteilte es Vueling, den durch die unterbliebene Abführung von Beiträgen an die französische Sozialversicherung entstandenen Schaden zu ersetzen.
Dagegen legte die Vueling eine Kassationsbeschwerde ein. Sie berief sich auf die E101-Entsendebescheinigungen. Der Kassationshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH ebenfalls diese Fragen vor.
Entscheidung des EuGH: Entsendebescheinigungen E101 sind für Zivilgerichte bindend, auch wenn Strafgerichte sie außer Acht gelassen haben
Der EuGH hat die zwei ihm vorgelegten Rechtssachen verbunden.
In seinem Urteil kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Fall die französischen Behörden und Gerichte zwar über konkrete Anhaltspunkte verfügten, dass die ausgestellten Entsendebescheinigungen E101 auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt worden waren. So ging aus den Akten hervor, dass Vueling bei einem erheblichen Teil der betreffenden Arbeitnehmer die Adresse ihres eigenen Sitzes in Spanien angegeben hatte. Die meisten von ihnen hatten jedoch nie in diesem Mitgliedstaat gelebt sondern in Frankreich gewohnt.
Nachdem das Strafverfahren beendet wurde, wurde das eingeleitete Zivilverfahren fortgesetzt.
Das Vorliegen von Indizien kann allerdings nicht als Rechtfertigung dafür ausreichen, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats oder die nationalen Gerichte dieses Mitgliedstaats bestands- oder rechtskräftig das Vorliegen eines Betrugs feststellen und die betreffenden Entsendebescheinigungen E101 außer Acht lassen.
Könnte ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats eine Entsendebescheinigung E101 allein deshalb für ungültig erklären, weil es konkrete Indizien dafür gibt, dass die Bescheinigung auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurde, wäre das mit der Verordnung geschaffene, auf der loyalen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten beruhende System gefährdet.
Der EuGH stellte fest, dass die nationalen Gerichte nur dann das Vorliegen eines Betrugs feststellen und infolgedessen diese Entsendebescheinigungen E101 außer Acht lassen dürfen, wenn sie sich an die Vorgaben der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71und der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gehalten haben.
- Der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats muss in die Lage versetzt worden sein, im Licht der vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Entsendebescheinigungen E101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, zu überprüfen, ob die Entsendebescheinigungen E101 zu Recht ausgestellt worden waren.
- Weiter muss der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats es unterlassen haben, eine solche Überprüfung vorzunehmen und innerhalb einer angemessenen Frist zu diesen Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die fraglichen Entsendebescheinigungen E101 gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen.
Im vorliegenden Fall stellte das Strafgericht das Vorliegen eines Betrugs fest und ließ die Entsendebescheinigungen E101 außer Acht, bevor die spanische Behörde, die die Entsendebescheinigungen E101 ausgestellt hatte, einbezogen wurde. Erst vier Jahre danach wurde der spanischen Behörde ein Protokoll wegen Schwarzarbeit übermittelt, um zu erwirken, dass diese die Entsendebescheinigungen E101 überprüft und gegebenenfalls für ungültig erklärt oder zurückzieht. Dies verstößt gegen das EU-Recht.
Rechtskräftige Entscheidung der Strafgerichte steht der Bindungswirkung der Entsendebescheinigungen E101 nicht entgegen
Hingegen können weder diese Verurteilung noch die rechtskräftige Feststellung eines Betrugs und die unter Verstoß gegen das Unionsrecht vorgenommenen Rechtsauslegungen, auf denen die Verurteilung beruht, den Zivilgerichten dieses Mitgliedstaats ermöglichen, Schadensersatzbegehren von Arbeitnehmern oder einer Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats stattzugeben.
Anderenfalls würde die unrichtige Anwendung von EU-Bestimmungen in jeder von den Zivilgerichten getroffenen Entscheidung über den gleichen Sachverhalt wiederholt werden, ohne dass diese Feststellung und diese unionsrechtswidrige Auslegung korrigiert werden könnten.
Der EuGH stellte schließlich fest, dass die EU-Vorschriften in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen.
Fazit: Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen E101 für nationale Gerichte, solange das Verfahren zur Überprüfung nicht abgeschlossen wurde
Aus dem Urteil des EuGH wird deutlich, dass die nationalen Gerichte Entsendebescheinigungen E101 nur unter bestimmten Vorrausetzungen außer Acht lassen können. Dies ist nur möglich, wenn die Behörde die Entsendebescheinigungen E101 erstellt hat, diese für ungültig erklärt hat oder es unterlassen hat, die Überprüfung vorzunehmen. Wenn die Gerichte sich nicht vergewissert haben, ob die ausstellende Behörde einbezogen wurde, und allein aufgrund von Indizien eines Betrugs die Entsendebescheinigungen E101 außer Acht lassen, ist dies unvereinbar mit dem EU-Recht. Solche Entscheidungen stellen keinen Anhaltpunkt für die anderen nationalen Gerichte dar, die Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen E101 bleibt bestehen, auch wenn beispielsweise ein Strafgericht diese außer Acht lässt.
siehe auch unter: https://protag-law.com/bindungswirkung-von-entsendebescheinigungen-e101-fuer-zivilgerichte-eugh-urteil-c-370-17-und-c-37-18/
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