230419 Übernahme eines Leiharbeiters nach 48-monatiger Überlassungsdauer – BAG Urteil 9 AZR 486/21

Übernahme eines Leiharbeiters nach 48-monatiger Überlassungsdauer – BAG Urteil 9 AZR 486/21


Sachverhalt: Ist die 48-monatige Überlassung eines Leiharbeiters als vorübergehend anzusehen?


Im vorliegenden Fall streiten die Parteien darüber, ob zwischen ihnen kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist, weil die Beklagte den Kläger nicht vorübergehend als Leiharbeiter beschäftigt hat.


Die Beklagte ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie und Mitglied im Verband der Metallindustriellen Niedersachsens eV. Ihre Rechtsvorgängerin vereinbarte mit dem bei ihr ge- bildeten Gesamtbetriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung über den Einsatz von Leiharbeitnehmern (GBV Zeitarbeit).


Der Kläger wurde zum 26. Oktober 2015 bei der R GmbH & Co. KG eingestellt. Seit Beginn seines Arbeitsverhältnisses ist er ausschließlich bei der Beklagten als Lager- und Produktionswerker sowie als Hilfskraft im Wege der Leiharbeit eingesetzt. Der Kläger ist außerdem Mitglied der IG Metall.


Der Verband der Metallindustriellen Niedersachsens eV und die IG Metall schlossen am 31. Mai 2017 den „TarifvertragLeiharbeit / Zeitarbeit (TV LeiZ)“, wonach der Einsatz von Leiharbeitnehmern gemäß § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG nur vorübergehend zulässig ist. 


Die R GmbH & Co. KG informierte den Kläger am 27. März 2020 darüber, dass sie ihn zum 30. April 2020 bei der Beklagten abmelden werde. Der Einsatz des Klägers bei der Beklagten endete zu diesem Zeitpunkt.


Der Kläger vertrat jedoch die Auffassung, mit der Beklagten sei ein Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes nach § 10 Abs. 1 Satz 1§ 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG begründet worden. Sein insgesamt länger als 54 Monate andauernder Einsatz als Leiharbeitnehmer auf einem Dauerarbeitsplatz bei der Beklagten sei nicht mehr als vorübergehend iSv. § 1 Abs. 1 Satz 4, Abs. 1b AÜG iVm. der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (Richtlinie 2008/104/EG) anzusehen.


Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.


Entscheidung des Gerichts: Nach 48-monatiger Überlassungsdauer muss der Leiharbeitnehmer vom Entleiher übernommen werden


Das BAG kam zu dem Ergebnis, dass die Revision des Klägers teilweise begründet ist. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen konnte das BAG aber nicht abschließend entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis und vorläufige Beschäftigung hat. Das führt zur teilweisen Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht. 


Als Begründung führte das BAG Folgendes aus:


Nach § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG darf der Verleiher denselben Leiharbeitnehmer zwar nicht länger als 18 Monate demselben Entleiher überlassen. § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG eröffnet aber den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche die Möglichkeit, diese gesetzliche Überlassungshöchstdauer durch Tarifvertag zu verkürzen oder auszudehnen. Nach § 1 Abs. 1b Satz 5 AÜG können zudem durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung, die aufgrund einer entsprechenden tarifvertraglichen Regelung der Einsatzbranche mit dem tarifgebundenen Entleiher geschlossen wurde, von der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer abweichende Regelungen getroffen werden. 


Das BAG stellte fest, dass diese Regelungen mit der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG im Einklang stehen.


Nach Nr. 2 Satz 1 der Anlage zur GBV Zeitarbeit wurde die Überlassungshöchstdauer von 48 Monaten mit dem nach § 50 Abs. 1 BetrVG originär zuständigen Gesamtbetriebsrat in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung festgelegt. Diese 48-monatige Überlassungsdauer entspricht der in § 2 Abs. 3 Satz 1 TV LeiZ vorgegebenen maximalen Überlassungszeit und hält sich im Rahmen dessen, was als „vorübergehend“ iSd. § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG iVm. Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG anzusehen ist.


Überlassungszeiten werden erst ab dem 1. April 2017 berücksichtigt


Der Kläger war zwar der Beklagten im Zeitraum vom 26. Oktober 2015 bis zum 30. April 2020 insgesamt 54 Monate und sechs Tage zur Arbeitsleistung überlassen. Für die Berechnung maßgeblich sind aber nur 37 Monate seines Einsatzes bei der Beklagten seit dem 1. April 2017. Dies folgt aus § 19 Abs. 2 AÜG, wonach Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nicht berücksichtigt werden. 


Hierzu führte das BAG aus, dass diese Übergangsregelung zwar nicht im Einklang mit Unionsrecht steht, weil sie dem beabsichtigten Schutz der Richtlinie 2008/104/EG vor einer nicht mehr nur „vorübergehenden“ Überlassung von Leiharbeitnehmern die praktische Wirkung nimmt. Der Leiharbeitnehmer kann aber wegen eines solchen Verstoßes kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher aus dem Unionsrecht ableiten (EuGH vom 17.03.2022, C-232/20).


Weiterhin kam das BAG zu dem Ergebnis, dass die Feststellung eines Arbeitsverhältnissen zwischen dem Leiharbeitnehmer und Entleiher sich auch nicht unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falls aus § 242 BGB herleiten lässt. Hat sich der Gesetzgeber - wie vorliegend hinsichtlich § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG - entschieden, einen Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot nicht mit der Sanktion der Begründung eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher zu versehen, darf diese Rechtsfolge nicht über § 242 BGB herbeigeführt werden.


Leiharbeitnehmer können einen Anspruch auf Übernahme aus Betriebsvereinbarungen haben


Mit Erreichen der Überlassungshöchstdauer von 48 Monaten hat der Leiharbeitnehmer einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Dies ergibt sich bereits aus der Anordnung in Nr. 3 Abs. 4 der Anlage zur GBV Zeitarbeit.


Der Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis ist ein Bewertungsverfahren vorgeschaltet, in dessen Verlauf die Eignung des Leiharbeitnehmers für die Fortsetzung seines Einsatzes in einem Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher ermittelt wird. Dazu ordnet Nr. 2 Abs. 1 der Anlage zur GBV Zeitarbeit an, dass nach 36 Monaten eine finale Bewertung auf Basis der während der Einsatzdauer durchgeführten Qualifikationsgespräche durch den Vorgesetzten vorzunehmen ist, um zu überprüfen, ob der Leiharbeitnehmer grundsätzlich für eine Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis in Frage kommt. Erfüllt ein Leiharbeitnehmer die Bewertungskriterien nicht, ist er spätestens nach Ablauf von 36 Monaten darüber zu informieren, dass sein Einsatz bei der Beklagten im Rahmen der üblichen Abmeldefrist endet (Nr. 2 Abs. 2 der Anlage zur GBV Zeitarbeit). Der finalen Eignungsbewertung geht eine quartalsweise vorzunehmende Prüfung voraus. Nach Nr. 3 Abs. 1 der Anlage zur GBV Zeitarbeit findet jeweils zum Ende des Quartals für das nächste Quartal eine Prüfung statt, ob der Leiharbeitnehmer für eine Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis in Frage kommt. Die Beklagte hat sicherzustellen, dass zum Zeitpunkt der Übernahmeentscheidung eine aktuelle Bewertung vorliegt.


Abmeldung eines Leiharbeitnehmers nur aus einem triftigen Grund


Innerhalb der ersten 36 der maximal zulässigen 48 Monate ermöglicht Nr. 3 Abs. 3 der Anlage zur GBV Zeitarbeit die Beendigung der Überlassung unabhängig vor der grundsätzlichen Eignung des Leiharbeitnehmers. Nach dieser Bestimmung ist eine Abmeldung in dem angegebenen Zeitraum jederzeit volumens-, leistungs- oder verhaltensbedingt möglich.


Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass die Beklagte ohne triftigen Grund von einem Verleiher die Abmeldung eines Leiharbeitnehmers verlangt, um sich dessen Übernahmeanspruch zu entziehen.


Erreicht ein Leiharbeitnehmer die Überlassungshöchstgrenze, hat er auch dann einen Über- nahmeanspruch, wenn die Beklagte das Verfahren zur Prüfung der Übernahmeeignung des Leih- arbeitnehmers nicht durchgeführt hat, es sei denn, es liegt ein Ausnahmetatbestand der Nr. 3 Abs. 5 der Anlage zur GBV Zeitarbeit vor. Als Ausnahmetatbestand gelten die Unterschreitung der Mindestquote von 17,5 % Leiharbeit sowie personen- oder verhaltensbedingte Gründe, die arbeitsrechtliche Konsequenzen zur Folge hatten. 


Unterlässt die Beklagte die vorgeschriebene finale Bewertung, ist unter Zugrundelegung des Rechtsgedankens aus § 162 BGBder Leiharbeitnehmer als grundsätzlich übernahmegeeignet anzusehen.


Auf der Grundlage der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen und des Vorbringens der Parteien konnte das BAG nicht beurteilen, ob der Kläger eine den Übernahmeanspruch begründende Einsatzdauer von 48 Monaten erreicht hat. Dies wäre dann der Fall, wenn die Ab- meldung des Klägers durch die Verleiherin vom 27. März 2020 zum 30. April 2020 auf Initiative der Beklagten erfolgt und nicht volumens-, leistungs- oder verhaltensbedingt gedeckt wäre. In diesem Fall wäre die Abmeldung im Verhältnis zur Beklagten unbeachtlich. Die Zuordnung zur Beklagten hätte als fortbestanden gegolten, soweit es die Voraussetzungen für den Übernahmeanspruch betrifft. Das Landesarbeitsgericht hat keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen, auf wessen Initiative die Abmeldung erfolgte und ob sie volumens-, leistungs- oder verhaltensbedingt veranlasst war.


Fazit: Eine 48-monatige Überlassung eines Leiharbeiters ist noch „vorübergehend“ 


Aus dem Urteil wird ersichtlich, dass Tarifverträge bzw. Betriebsvereinbarungen die Überlassungsdauer auf bis zu 48 Monate ausdehnen dürfen. Die 48-monatige Überlassungsdauer ist als vorübergehend anzusehen. Gleichzeitig können in den Tarifverträgen bzw. Betriebsvereinbarungen die Voraussetzungen der Übernahme eines Zeitarbeiters vorgeschrieben werden. Im vorliegenden Fall schrieb die Gesamtbetriebsvereinbarung vor, dass der Zeitarbeiter nach dem Ablauf von 36 Monaten vom Einsatz abgemeldet werden kann, wenn der Entleiher die Prüfung der Übernahmeeignung des Leiharbeitnehmers durchgeführt hat und zum Ergebnis kommt, dass der Zeitarbeiter für die unbefristete Stelle ungeeignet ist. Eine solche Abmeldung ist jedoch volumens-, leistungs- oder verhaltensbedingt zu veranlassen. Das heißt, der Entleiher braucht einen triftigen Grund, um einen Leiharbeiter nicht weiter einzusetzen. Wenn der Leiharbeiter nach dem 36. Monat weiterhin beim Entleiher eingesetzt ist, hat er nach den 48 Monaten einen Anspruch auf die Übernahme.


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