230426 Abweichung von der gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer - Tarifgebundenheit eines Leiharbeitnehmers? BAG Urteil 4 AZR 26/21

Abweichung von der gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer - Tarifgebundenheit eines Leiharbeitnehmers? BAG Urteil 4 AZR 26/21


Sachverhalt:  Muss ein Leiharbeiter tarifgebunden sein, damit eine tarifliche Abweichung von der Höchstüberlassungsdauer Anwendung findet?


Die Parteien streiten, ob zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist. 


Der Kläger war seit dem 31. März 2014 bei der Verleiherin aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 28. März 2014 tätig. Er wurde der Beklagten, die Mitglied des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. (Südwestmetall) ist, im Zeitraum vom 31. März 2014 bis zum 31. Mai 2019 im Wege der Leiharbeit überlassen und als Produktionshelfer beschäftigt.


Südwestmetall und die Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) schlossen am 31. Mai 2017 einen  Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit (TV LeiZ) ab, nach dem die Höchstdauer eines Einsatzes 48 Monate nicht überschreiten darf. Die Betriebsparteien können im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung unter anderem die Höchstdauer des Einsatzes und Übernahmeregeln regeln.


Die Rechtsvorgängerin der Beklagten schloss mit dem bei ihr gebildeten Gesamtbetriebsrat am 16. September 2015 eine „Gesamtbetriebsvereinbarung zur Erhöhung der Personalflexibilität“ (GBV Dmove) ab. Hiernach durfte der Einsatz von Leiharbeitnehmern eine Höchstdauer von 36 Monaten nicht überschreiten.


Mit seiner Klage hat der Kläger geltend gemacht, zwischen ihm und der Beklagten bestehe wegen Überschreitung der gesetzlich zulässigen Höchstüberlassungsdauer kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis. Er hat die Auffassung vertreten, die gesetzliche Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten sei nicht durch den TV LeiZ oder die GBV Dmove verlängert worden. Der TV LeiZ gelte nicht für sein Arbeitsverhältnis, da er - unstreitig - nicht Mitglied der IG Metall sei. 


Während das Arbeitsgericht die Klage abwies, änderte das Landesarbeitsgericht auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil ab und gab der Klage statt. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.


Entscheidung des BAG: Leiharbeitnehmer muss nicht tarifgebunden sein


Das BAG kam zu dem Ergebnis, dass zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis nach § 9 Abs. 1 Nr. 1b§ 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG kraft Gesetzes begründet worden ist. Die Überlassungshöchstdauer wurde durch die Überlassung des Klägers an die Beklagte in der Zeit vom 31. März 2014 bis zum 31. Mai 2019 nicht überschritten. Die gesetzliche Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten (§ 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG) ist vorliegend nach § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG iVm. Nr. 2.3, 3.1 TV LeiZ iVm. Nr. 5.1 GBV Dmove wirksam auf 36 Monate unter Berücksichtigung allein der Überlassungszeiten ab dem 1. April 2017 verlängert worden.


Durch einen Tarifvertrag iSd. § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG wird die zulässige Höchstüberlassungsdauer für den Einsatz bei einer an diesen nach § 3 Abs. 1 TVG gebundenen Entleiherin nicht nur für diese, sondern zugleich - und unabhängig von deren Tarifgebundenheit - auch für den überlassenen Arbeitnehmer und die Verleiherin geändert. 


Für die Geltung eines solchen Tarifvertrags ist allein die Tarifgebundenheit der Entleiherin erforderlich, da nur diese, nicht aber diejenige des überlassenen Arbeitnehmers oder der Verleiherin im Gesetz Erwähnung finden.



Leiharbeit darf nicht zu einer Dauersituation für Leiharbeitnehmer werden


Des Weiteren stellte das BAG fest, dass die Regelungen in § 1 Abs. 1b Satz 3 und Satz 5 AÜG mit Unionsrecht vereinbar sind. Die Übertragung der Regelungsbefugnis auf die Tarifvertragsparteien sowie deren Möglichkeit, abweichende betriebliche Regelungen zuzulassen, ist auch ohne eine gesetzliche Festlegung einer absoluten Überlassungshöchstgrenze zulässig.


Die Richtlinie 2008/104/EG steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von einer nach nationalem Recht festgelegten Überlassungshöchstdauer abzuweichen.


Die Festlegung einer absoluten Höchstüberlassungsgrenze in der Öffnungsklausel ist nach dem Recht der Europäischen Union nicht erforderlich. Die Richtlinie 2008/104/EG zielt nicht speziell darauf ab, die Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen festzulegen, bei deren Überschreitung eine solche Überlassung nicht mehr als vorübergehend ein- gestuft werden kann. Die Richtlinie 2008/104/EG legt auch an keiner Stelle eine Dauer fest, bei deren Überschreitung eine Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden kann. Die Mitgliedstaaten sind durch keine Bestimmung dieser Richtlinie verpflichtet, im nationalen Recht eine solche Dauer vorzusehen. Sie müssen lediglich dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer wird (s. auch EuGH vom 17.03.2022, C-232/20).


Der TV LeiZ gestattet in Nr. 3.1 die Festlegung einer von Nr. 2.3 TV LeiZ abweichenden Überlassungshöchstdauer durch freiwillige Betriebsvereinbarungen und ist wirksam zustande gekommen.

 

Die Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten nach Nr. 5.1 GBV Dmove unterschreitet die in Nr. 2.3 TV LeiZ vorgegebene maximale Überlassungszeit und hält sich im Rahmen dessen, was als „vorübergehend“ iSd. § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG iVm. Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG anzusehen ist


Keine vorübergehende Überlassung bei dauerhaftem Einsatz eines Leiharbeitnehmers 


„Vorübergehend“ bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch „zeitlich begrenzt“. Eine konkrete zeitliche Grenze, nach der eine Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ angesehen werden könnte, findet sich allerdings weder im AÜG noch in der Richtlinie 2008/104/EG.


Nicht „vorübergehend“ ist eine Überlassung dann, wenn sie unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, vernünftigerweise nicht mehr als „vorübergehend“ betrachtet werden kann. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Überlassung ohne jegliche zeitliche Begrenzung erfolgt und der Leiharbeitnehmer dauerhaft anstelle eines Stammarbeitnehmers eingesetzt werden soll. 


Aufgrund dieser Grundsätze kam das BAG zu dem Ergebnis, dass die vereinbarte Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten noch als „vorübergehend“ anzusehen ist.


Nicht vorübergehende Überlassungsdauer begründet kein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer


Weiterhin stellte das BAG fest, dass selbst wenn die Überlassungsdauer von 62 Monaten nicht mehr als „vorübergehend“ angesehen werden könnte, dies nicht die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen der Beklagten und dem Kläger zur Folge hätte. § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG fingiert das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses nur für die Fälle, in denen der Vertrag zwischen einem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer nach § 9 AÜG unwirksam ist. Dies ist bei einem Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG mangels Erwähnung in § 9 AÜG nicht der Fall. Eine analoge Anwendung von § 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG, nach dem Arbeitsverträge zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern mit dem Überschreiten der Überlassungshöchstdauer unwirksam werden, scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus. Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG idF v. 28. April 2011 nicht auf Fälle angewendet werden kann, für die es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung gibt, nur die Überschreitung der Überlassungshöchstdauer mit der Rechtsfolge des § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG sanktioniert.


Aus dem Unionsrecht kann ein Leiharbeitnehmer wegen eines solchen Verstoßes auch kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher ableiten, weil die Richtlinie keine Vorgaben zum Inhalt der Maßnahmen und Sanktionen macht.


Fazit: Abweichende Höchstüberlassungsdauer findet für nicht tarifgebundene Leiharbeitnehmer Anwendung


Das BAG hat mit seinem Urteil Klarheit in Bezug auf die Tarifgebundenheit eines Leiharbeitnehmers geschaffen. Aus dem Urteil wird deutlich, dass die Abweichung von der 18-monatigen gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer durch einen Tarifvertrag bzw. Betriebsvereinbarung zulässig ist und dafür nur die Tarifgebundenheit eines Entleihers notwendig ist. Wenn der Entleiher tarifgebunden ist, gilt die abweichende Überlassungshöchstdauer auch für Leiharbeitnehmer und Verleiher. 


Außerdem wird aus dem Urteil ersichtlich, dass ein Leiharbeitnehmer kein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher begründen kann, wenn seine Überlassungsdauer beispielsweise nicht mehr als vorübergehend angesehen werden könnte.  Solange die abweichende Überlassungshöchstdauer nicht überschritten wird, bleibt das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Verleiher wirksam. 


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